Excerpt from: Die gotische Bibel: Herausgegeben von Wilhelm Streitberg. (Germanische Bibliothek, 2. Abteilung, 3. Band) 1. Teil: Der gotische Text und seine griechische Vorlage. Mit Einleitung, Lesarten und Quellennachweisen sowie den kleineren Denkmälern als Anhang. Heidelberg: Carl Winter, 1919. (S. 475 - 478)




Anhang

III.
Die gotischen Bruchstücke der Wiener Alkuinhandschrift.

1 uuortun otan auar1)
2 waurþunuþþan. afar
3 euang-eliû ther Lucan
4 aiwaggeljo þairh Lokan
5 uuorthun auar thuo
6 waurþun afar þo
7 ia chuedant ia chuatun
8 jah qeþun.
9 ubi dicit/. genuit. j ponitur
10 ubi gabriel .g. ponunt & alia his sim
11 ubi aspirationê. ut dicitur
12 gah libeda . jah libaida
13 diptongon .ai. pro e. longa
14 pro ch .q. ponunt            tCCC
15
sl T l hv z T ib hv m
16
CXXX DCCCCXXX DCCCVII DCCCCXII DCCCXL
17
j l f Y u o Y Y
18
LX XXX DXC LXX DCCCXC DCCC

[editorial note: there is no common transcription for the symbols denoting 90 and 900 - they are here rendered by capital Y (90) and T (900)]

1. Erster Absatz Z. 1-8: Zeile 4 bietet die got. Überschrift des Lukasevangeliums in der Fassung von *K, während CA einen vom Lateinischen beeinflußten Wortlaut zeigt.

Zeile 2 entspricht dem Anfang von L 9,28, weist aber dem CA gegenüber ein Plus von -uh auf. Mit ihr ist die 6. Zeile identisch, doch zitiert sie ein Wort mehr und läßt -uþ-þan aus.

Zeile 8 findet sich L 1,61 17,5 19,25 20,2 im Versanfang, L 3,12 in der Versmitte.

Über den gotischen Zeilen steht eine Art Umschrift mit lateinischen Buchstaben. Vgl. darüber v. Grienberger PBB. 21,292ff. und Luft Studien zu den ältesten german. Alphabeten S. 76 ff.

2. Zweiter Absatz Z. 9-14: er enthält phonetische Bemerkungen. Zeile 9 und 10 geben den Unterschied in der Aussprache des latein. g an, je nachdem es vor palatalem (genuit) oder velarem (gabriel) Vokal steht, vgl. Diez Gramm. der roman. Spr. 1,291.2)

Zeile 11 bietet in einem unvollständigen Satz eine Bemerkung über die Aussprache des h, wozu Z. 12 ein Beispiel bringt. v. Grienberger S. 197 ergänzt den Satz: ubi aspirationem <dicunt h ponitur>. — Das Beispiel jah libaida stammt aus dem 5. Kapitel der Genesis. Demselben Kapitel wird auch das Beispiel 'genuit' Z. 9 angehören, während das Beispiel 'gabriel' im AT. nur im Buche Daniel, im NT. L 1,19.26 belegt ist. Es wird daher den Lukasversen entnommen sein.

Zeile 13 gibt im Anschluß an das Beispiel libeda· libaida (Z. 12) eine Bemerkung über die Aussprache des got. ai.

Zeile 14 notiert, daß dem ch des Schreibers im Gotischen q entspricht; die Notiz ist wohl durch das Beispiel chuatun· qepun (Z. 7/8) veranlaßt. — Die am Schluß der Zeile stehenden Ziffern tCCC sind nach dem Zeugnis Maßmanns (HZ. 1,302) nachträglich hinzugefügt; sie gehören am Ende der letzten Zeile.

3. Dritter Absatz Z. 15-18: Er umfaßt zwei Reihen gotischer Zahlzeichen mit darunter gesetzten römischen Ziffern. Die got. Zahlen der Zeile 15 entstammen, wie W. Grimm Kl. Schr. 3,101 nachgewiesen hat, dem 5. Kapitel der griechischen Genesis, während die darunter stehenden römischen Ziffern der Zeile 16 die entsprechenden Zahlen der Vulgate bieten: es handelt sich also um eine Art kritischer Vergleichung der Differenzen und Übereinstimmungen beider Texte.

Für die got. Zahlzeichen der 17. Zeile haben Kauffmann ZZ. 29,318ff. und Kisch S. 45, unabhängig voneinander, ebenfalls das 5. Kapitel der Genesis als Quelle nachgewiesen. Die römischen Ziffern (Z. 18) entsprechen wiederum den Angaben der Vulgata. Die Zahlen der Zeilen 17 und 18 sind jedoch nicht genau: es fehlen Einer und auch Hunderte. Das macht die Identifizierung mitunter unsicher, weil verschiedene Verse in Betracht kommen können.

Wie Kauffmann S. 319 erkannt hat, deckt sich der Wortlaut des Luciantextes am genauesten mit den gotischen Zahlbezeichnungen, während die 'Septuaginta' ferner steht. Von den Handschriften, die de Lagarde der lucianischen Bibel zugewiesen hat, bietet der Zittaviensis (min 44 Ho., de Lagardes z) gleich dem got. Texte Zahlzeichen, keine ausgeschriebenen Zahlen.

Im Folgenden werden die Bibelstellen nach der Reihenfolge der got. Zahlen in der Fassung des Luciantextes und nach der Vulgata gegeben.


Genesis Kapitel V.

Zeile 15 und 16.

3. [E)/ZHSE DE\ *ADAM E)/TH] DIAKO/SIA TRIA/KONTA
[vixit autem Adam] centum triginta [annis]

5.[KAI\ E)GE/NONTO PA=SAI AI( H(ME/RAI *ADAM A(\S E)/ZHSEN E)/TH] E)NNAKO/SIA TRIA/KONTA
[et factum est omne tempus quod vixit Adam anni] nongenti triginta

7. KAI\ E)/ZHSE [*SHQ META\ TO\ GENNH=SAI AU)TO/N . . . . E)/TH] E(PTAKO/SIA E(PTA/
vixitque [Seth . . . .] octigentis septem [annis]

8. [KAI\ E)GE/NONTO PA=SAI AI( H(ME/RAI *SHQ E)/TH] E)NNAKO/SIA DE/KA DU/O
[et facti sunt omnes dies Seth] nongentorum duodecim [annorum]

13. KAI\ E)/ZHSE [*KAINAN . . . . E)/TH] E(PTAKO/SIA TESSERA/KONTA
et vixit [Cainan . . . .] octingentis quadraginta [annis]

Zeile 17 und 18.

15. KAI\ E)/ZHSE [*MALELEHL E)/TH E(KATO\N] E(CH/KONTA [PE/NTE]3)
vixit autem [Malaeel] sexaginta [quinque annis]

16. KAI\ E)/ZHSE [*MALELEHL . . . . E)/TH E(PTAKO/SIA] TRIA/KONTA
et vixit [Malaeel . . . . octingentis] triginta [annis]

Die flg. beiden Ziffern trennt Kauffmann und weist die erste (500) dem 30., die zweite (90) dem 9. Verse zu; sie gehören jedoch ebensogut zusammen wie die beiden vorletzten Ziffern der Reihe, denn sie sind nicht wie das erste Ziffernpaar in der Hs. durch einen Punkt getrennt: alsdann stimmen sie zu dem lateinischen Text des 30. Verses, während die griechische Ziffer abweicht; doch wird man vielleicht an eine Änderung 90 statt 60 im gotischen Text denken dürfen.

30. KAI\ E)/ZHSE [*LAMEX . . . . E)/TH] PENTAKO/SIA E(CH/KONTA [PE/NTE]
vixitque [Lamech . . . .] quingentis nonaginta [quinque annis]

12. KAI\ E)/ZHSE [*KAINAN E)/TH E(KATO\N] E(BDOMH/KONTA
vixit quoque [Cainan] septuaginta [annis]

17. [KAI\ E)GE/NONTO PA=SAI AI( H(ME/RAI *MALELEHL E)/TH] O)KTAKO/SIA E)NENH/KONTA [PE/NTE]
[et facti sunt omnes dies Malaeel] octingenti nonaginta [quinque anni]

Dunkler ist die letzte Doppelzahl: hier stimmt nämlich die gotische Ziffer nicht zur römischen; Kaufmann ändert deshalb Y in T; dann stehn die Verse 14.20.27 zur Auswahl, in denen allen E)NNAKO/SIA (von Zehnern und Einern begleitet) erscheint. Vielleicht darf man aber auch an die Vergleichung zweier Verse miteinander denken, dann bieten sich ungezwungen V. 9 und V. 11 dar:

9. KAI\ E)/ZHSEN [*ENWS E)/TH E(KATO\N] E)NENH/KONTA
vixit vero [Enos] nonaginta [annis]

11. [KAI\ E)GE/NONTO PA=SAI AI( H(ME/RAI *ENWS E)/TH] E)NNAKO/SIA [PE/NTE]
[factique sunt omnes dies Enos] nongenti [quinque annis]

Die nachgetragene Zahl in Zeile 14. CCC stimmt genau mit der Vulgata-ziffer in V. 22: et vixit [postquam genuit Mathusalem] trecentis [annis], doch bietet die lucianische Bibel DIAKO/SIA. Daher kommt wohl eher der fig. Vers in Betracht:

23. [KAI\ E)GE/NONTO PA=SAI AI( H(ME/RAI *ENWX E)/TH] TRIAKO/SIA [E(CH/KONTA PE/NTE]
[et facti sunt omnes dies Henoch] trecenti [sexaginta quinque anni]


1) Kursivsatz bedeutet lateinische, Antiquasatz gotische Schrift des Originals.
2) Kisch liest Z. 9 'C ponitur' und interpretiert: wo 'genuit' (in der Genesisstelle) steht, wird 100 (von den Zahlen der Vulgata) abgezogen (um die Zahlen des got. Textes zu erhalten); aber diese Deutung nimmt auf Z. 10 keine Rücksicht.
3) Die Zahl E(CH/KONTA erscheint auch in den Versen 18.20.21.23.25.